Nikolai Ryschkow
Nikolaj Ryschkow war 1985−1991 Vorsitzender des Ministerrats der Sowjetunion und ist heute Mitglied des russischen Föderationsrates. Ryschkow ist Gründer und Leiter der Gedenkstätte "Feld von Prochorowka" (der Ort der entscheidenden Panzerschlacht um den Kursker Frontbogen). Er wurde 2019 als Held der Arbeit der Russischen Föderation ausgezeichnet. Ab 1981 war er Mitglied des Zentralkomitees (ZK) der KPdSU, ab 1982 Sekretär des ZK und Leiter der Wirtschaftsabteilung des ZK. Unter der Leitung des Generalsekretärs Juri Andropow arbeitete er an Wirtschaftsreformen der UdSSR. 1975−1979 war er Erster stellvertretender Vorsitzender der Staatlichen Plankommission Gosplan. 1950−1975 stieg er vom Abteilungsleiter zum Generaldirektor des Schwermaschinenbaubetriebs Uralmasch auf. Er gehört der Generation an, die das Land nach den Zerstörungen des Großen Vaterländischen Krieges aus den Trümmern hob. Ryschkow wurde 1929 in Donezk in eine Bergarbeiterfamilie hineingeboren.
Wir sind verpflichtet, die Wahrheit zu verteidigen
Der Große Vaterländische Krieg hat den Gang der Geschichte, das Schicksal von Millionen von Menschen und die Weltkarte nachhaltig verändert. Unsere Bevölkerung hat den massiven Angriffen Nazi-Deutschlands und seiner Verbündeten getrotzt — einem hochorganisierten und gut bewaffneten Aggressor. Wir haben durchgehalten und gesiegt.

Nicht eine Familie in unserem Land ist vom Krieg verschont geblieben. Männer wie auch Frauen und Kinder kämpften und starben an der Front. Sie arbeiteten rund um die Uhr im Hinterland, hungerten während der Blockade und starben in den besetzten Gebieten. Der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg ist ein integraler Bestandteil unserer Grundwerte und Landesgeschichte. Wir sind aufgewachsen mit Erzählungen über die großen Taten der unzähligen Held*innen an der Front oder im Hinterland, mit legendären sowjetischen Filmen, mit Liedern und Büchern über den Krieg.
Die Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges ist ein Teil von uns, wir bestehen aus ihr
Die Zeit schreitet unaufhaltsam voran und dieses tragische und heroische Kapitel unserer Geschichte rückt in immer weitere Ferne. Aber der Große Vaterländische Krieg, das Heldentum dieser bewegten Kriegsjahre, die Tapferkeit, der Patriotismus und die grenzenlose Selbstaufopferung, mit der das sowjetische Volk die Ehre und Unabhängigkeit unserer Heimat verteidigt hat, müssen gewahrt und geehrt werden. Sie müssen uns und künftigen Generationen in Erinnerung bleiben — das ist unsere heilige Pflicht.

Unsere großen Schlachten halten wir alle in Ehren: die Schlacht um Moskau, von Stalingrad, von Kursk, die Befreiung von der Leningrader Blockade und viele andere. Die Schlacht um den Kursker Bogen im Juli 1943 zementierte den Wendepunkt des Kriegs: Eingeläutet durch die Schlacht von Stalingrad verankerte die entscheidende Panzerschlacht bei Prochorowka am 12. Juli den Erfolg dieser strategischen Operation.

Seit beinahe einem Vierteljahrhundert schon bin ich Beiratsvorsitzender der Gedenkstätte "Feld von Prochorowka". Ins Leben gerufen wurde die Gedenkstätte, um die Verdienste und Heldentaten der sowjetischen Soldaten im Großen Vaterländischen Krieg zu verewigen. Als Institution möchten wir heutigen und künftigen Generationen die Wahrheit über die heldenreiche und tragische Zeit nahebringen, die unsere Heimat von 1941 bis 1945 erlebte. Auf dem legendären Feld von Prochorowka wurde ein Siegesdenkmal in Form eines Glockenturms errichtet. In Prochorowka selbst erhebt sich eine Kirche, deren Wände die Namen 10.000 gefallener Soldaten zieren. Außerdem haben wir in Prochorowka ein Veteranenheim, ein kulturhistorisches Zentrum und zwei Waisenhäuser gebaut. Zum 65. Jahrestag des Sieges konnten wir auf dem Gelände ein militärhistorisches Museum eröffnen, das unserem Waffenruhm gewidmet ist, und im Januar 2017 ein Museum für Panzertechnik.

Anlässlich des 75. Jubiläums des Sieges ist eine weitere Museumseröffnung geplant. Die Ausstellung mit dem Titel "Der Kampf um die Waffen des Großen Sieges" soll die Wirtschaftslage der Sowjetunion und Deutschlands vor dem Krieg dokumentieren und von der umfassenden Abwanderung und Umrüstung der Industrie sowie vom Standortwechsel von Betrieben und Arbeiter*innen berichten; außerdem soll sie die harten Lebens- und Arbeitsbedingungen der Bevölkerung im Hinterland aufzeigen. Das Museum rückt das Menschliche ins Zentrum: Seine Protagonist*innen sind die Menschen unseres Landes und ihre Erinnerungen. Außerdem werden auch zahlreiche historische Ausstellungsstücke aus dutzenden Betrieben und Fabriken zu sehen sein, die Waffen für den Sieg schmiedeten.
Die historische Bedeutung des sowjetischen Sieges im Großen Vaterländischen Krieg besteht nicht nur in der Befreiung unserer eigenen Gebiete und der Verteidigung der Integrität unserer Heimat, sondern auch in der Befreiung der Bevölkerung Europas von der faschistischen Unterdrückung
Auch 75 Jahre nach dem Sieg über Hitlerdeutschland und seine Satelliten, dessen Jubiläum in unserem und vielen anderen Staaten feierlich begangen werden soll, ist die Erinnerung daran so aktuell wie eh und je.

In letzter Zeit werden in Polen und in den Baltischen Staaten sowjetische Kriegsdenkmäler frevlerisch demontiert. Der Große Vaterländische Krieg wird eifrig diskreditiert, die Rolle unseres Landes und unserer Bürger*innen im Sieg über den Faschismus herabgesetzt. Die Erinnerung an diesen wichtigen Moment in der Menschheitsgeschichte, in dem die Sowjetunion trotz schwerster militärischer Bedrängnis und um dem Preis von Millionen von Menschenleben einen monströsen Feind besiegte, wird gezielt entstellt und entehrt. Warum wenden sich gerade jetzt so viele selbsternannte kritische Stimmen diesem Thema zu?
Es war ein wirklich Großer Krieg: Er ist Dreh- und Angelpunkt der nationalen Erinnerungskultur, denn jede Familie verbindet ihre eigene Geschichte damit
Sollten diese Bemühungen erfolgreich sein und bewirken, dass heutige und künftige Generationen von Russ*innen die Verdienste ihrer Vorfahren zu vergessen oder gar zu schmähen drohen, verlieren wir nicht nur unsere Vergangenheit, sondern auch unsere Zukunft.

Ein solches Beispiel ist die Berichterstattung der deutschen Presse, die 2019 kurz vor dem 76. Jahrestag der berühmten Panzerschlacht bei Prochorowka verlauten ließ, man solle den Glockenturm zu Ehren der gefallenen sowjetischen Soldaten abreißen, denn an diesem Ort habe ja gar keine Schlacht stattgefunden. Das rief Wut und Empörung bei all jenen hervor, die an den Kämpfen bei Prochorowka beteiligt waren, und die um die wahre Bedeutung dieser Schlacht wissen. Solche Äußerungen zeugen von Pietätlosigkeit gegenüber den vielen Tausend Soldaten, die auf dem Soldatenfriedhof von Prochorowka begraben sind. Als Beiratsvorsitzender der Gedenkstätte "Feld von Prochorowka" - aber auch als Privatperson, die die Geschichte ihrer Heimat hochhält -, muss ich solchen Aussagen entschieden widersprechen.

Leider geraten nicht nur unsere militärischen Errungenschaften ins Visier, sondern auch der unschätzbare Beitrag, den die Arbeiter*innen im Hinterland zum Sieg beitrugen. Der selbstlose Einsatz unserer furchtlosen und tapferen Vorfahren — darunter ältere Menschen, Frauen und Kinder — bietet sich zweifellos als Vorbild bei der Erziehung jüngerer Generationen an.

Es gibt sogar Versuche, diesen Geschichtsrevisionismus in internationalen Dokumenten festzuschreiben. Im September 2010 hat das Europäische Parlament bekanntlich die Resolution "Bedeutung der Erinnerung an die europäische Vergangenheit für die Zukunft Europas" verabschiedet, worin es heißt, der Zweite Weltkrieg sei von Deutschland und der Sowjetunion durch den sogenannten Molotow-Ribbentrop-Pakt ausgelöst worden. Mit ihrem Auftreten und ihren unhaltbaren Behauptungen entweihen die EU-Abgeordneten nicht nur das Andenken Tausender gefallener Soldaten, die Europa in den Jahren 1944−1945 von der "braunen Pest" befreit haben, sie zersetzen auch die moralische Integrität kommender Generationen Europas.

Es ist eine bittere Erkenntnis, aber ich bin fest davon überzeugt: Je weiter der Große Vaterländische Krieg zurückliegt, in dem wir 27 Millionen Soldaten und Zivilist*innen verloren haben und vor allem, je weniger Zeitzeug*innen unter uns weilen, desto dreister werden die Geschichtsfälscher*innen aller Couleur vorgehen, nicht nur im Ausland, sondern leider auch hier bei uns.

Wie der russische Präsident Wladimir Putin am 15. April 2020 in seiner Ansprache an die Föderationsversammlung erklärte: "Für Russland ist der 9. Mai der bedeutendste und heiligste aller Feiertage. Wir sind stolz auf eine Generation von Siegern, halten ihre großen Taten in Ehren, und unser Gedenken zollt nicht nur unserer heldenhaften Vergangenheit Tribut, es dient auch unserer Zukunft, inspiriert und stärkt unsere Einigkeit. Wir sind verpflichtet, die Wahrheit über den Sieg zu verteidigen, denn was sollen wir unseren Kindern sagen, wenn die Lüge sich auf der ganzen Welt ausbreitet wie eine Seuche? Solchen dreisten Lügen und Bestrebungen, die Geschichte zu verdrehen, müssen wir Fakten entgegensetzten."

Vor dem Hintergrund der aktuellen Situation wurde eine Reihe von Verfassungsänderungen angenommen, die unter anderem das Gedenken an die Verteidiger*innen der Heimat auf staatlicher Ebene verankern und die historische Wahrheit schützen. Ich hoffe aufrichtig, dass es uns auf dieser Grundlage in Zukunft möglich sein wird, Gesetze zu verabschieden, die unsere ruhmreiche Geschichte und unser heldenhaftes Volk vor den Angriffen verschiedenster Widersacher*innen schützen können.
Es ist bemerkenswert, dass die Geschichtsfälscher*innen heute fast genauso vorgehen, wie in den ersten Nachkriegsjahren
So veröffentlichte das State Department gemeinsam mit Englands und Frankreichs Außenministern Ende Januar 1948 eine — auf Dokumenten des Reichsaußenministeriums basierende — Broschüre mit dem Titel "Die nazistisch-sowjetischen Beziehungen 1939−1941". Natürlich gingen die Alliierten bei ihrer Argumentation gegen die Sowjetunion erst auf die Zeit nach 1939 ein, denn im September 1938 schlossen sie selbst mit dem Dritten Reich das Münchner Abkommen und der Viererpakt war bereits 1933 unterzeichnet worden, kurz nachdem Hitler an die Macht gekommen war.

Die Sowjetunion sah sich folglich gezwungen, diese dreisten Verleumdungen einer objektiven geschichtswissenschaftlichen Überprüfung zu unterziehen. Bereits wenige Wochen später, im Februar 1948, wurde die Forschungsarbeit "Geschichtsfälscher" mit einer Auflage von 2 Millionen veröffentlicht. Die Broschüre versammelt Dokumente über die frühen Etappen der deutschen Angriffsvorbereitungen und die politischen Strategien Englands und Frankreichs, deren Ziel es war, die UdSSR zu isolieren und eine militärische Intervention Hitlers gegen unser Land herbeizuführen.

Obwohl 70 Jahre vergangen sind, ist dieser Bericht auch eine klare Antwort auf den aktuellen Geschichtsrevisionismus. Leider wird er heute nur noch von Historiker*innen rezipiert, aber angesichts der Dringlichkeit dieser Probleme sollte sich eine breite Öffentlichkeit damit befassen — und zwar innerhalb und außerhalb unseres Landes.
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