Matthias Platzeck
Matthias Platzeck, 1953 in Potsdam geboren, war in der DDR in der Umweltbewegung engagiert. 1990 wurde er in die Regierung Hans Modrow aufgenommen und danach in die Volkskammer gewählt. Nach der Wiedervereinigung war Platzeck von 1990 bis 1998 Umweltminister des Landes Brandenburg. 1995 trat er in die SPD ein, die ihn 2005 zum Vorsitzenden wählte. Von 1998 bis 2002 war er Oberbürgermeister von Potsdam. Von 2002 bis 2013 war er Ministerpräsident von Brandenburg. Matthias Platzeck ist Vorstandsvorsitzender des Deutsch-Russischen Forums und leitet die Kommission "30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit" der Bundesregierung.
Aufrichtiges Erinnern — eine deutsche Verantwortung
Wie keiner anderen Nation in Europa ist Deutschland die Aufgabe auf den Weg gegeben, sich seiner Vergangenheit zu erinnern. Heute werden die Zeitzeugen weniger, die aus eigener Erfahrung vom Unheil des Krieges berichten können, den das Deutsche Reich mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 begann. Die Aufgabe, sich an das eigene düstere Erbe zu erinnern, wird schwieriger. Doch in einer Zeit, in der der Ost-West-Antagonimus unseren Kontinent in neuer Gestalt erfasst hat, müssen wir uns ihr mehr denn je stellen — aus Verantwortung für unsere Zukunft.

Der Jahrestag des Sieges über den Faschismus, den wir in diesem Jahr zum 75. Mal begehen, ruft uns ins Gedächtnis, dass wir die Millionen Opfer des Eroberungs- und Vernichtungskriegs, den Deutschland gegen die Sowjetunion führte, nicht im Schatten der Erinnerung lassen dürfen. Uns muss zu denken geben, wenn der langjährige Leiter des Deutsch-Russischen Museums Berlin-Karlshorst, Peter Jahn, feststellt: "Mit der neuen Konfrontation zwischen der Russischen Föderation und der NATO seit 2014 sinkt anscheinend auch die Bereitschaft, die eigene Täterrolle im Krieg gegen die Sowjetunion anzuerkennen. In den gegenwärtigen Vereinfachungen sind, die Russen' wieder ausschließlich die Täter — und damit tendenziell auch in der Geschichte."

Das Museum Berlin-Karlshorst hält die Erinnerung an die Verbrechen der Deutschen an den Völkern der Sowjetunion im öffentlichen Bewusstsein wach — an einem geschichtsträchtigen Ort: In Karlshorst unterzeichnete die Wehrmacht am 8. Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation. Die schwindende Empathie mit den Opfern deutscher Verbrechen, die der ehemalige Museumsleiter beklagt, erschüttert zutiefst.
In einer Zeit, in der der Frieden auch auf unserem Kontinent alles andere als selbstverständlich ist, muss es das Gebot der Stunde sein, an das Leid, das Deutsche über die Menschen in der Sowjetunion gebracht haben, zu erinnern, den Opfern den Respekt zu zeigen, den wir ihnen schulden, und Aussöhnung zu suchen
Historische Sensibilität und Aufrichtigkeit können helfen, Gräben, die heute wieder so tief sind wie im Kalten Krieg, zuzuschütten.

In Europa erleben wir heute leider eher das Gegenteil. Im September 2019 hat das Europäische Parlament eine erinnerungspolitische Resolution verabschiedet. In der Entschließung zum Jahrestag des Kriegsbeginns wird die große Bedeutung des Gedenkens "für die Stärkung der Widerstandskraft Europas gegen die aktuellen Bedrohungen von außen" hervorgehoben und festgestellt, "dass der Zweite Weltkrieg, der verheerendste Krieg in der Geschichte Europas, durch den auch als Molotow-Ribbentrop-Pakt bezeichneten berüchtigten Nichtangriffsvertrag zwischen dem nationalsozialistischen Deutschen Reich und der Sowjetunion vom 23. August 1939 und seine geheimen Zusatzprotokolle ausgelöst wurde". [Die Textstelle aus der Resolution habe ich unten in der englischen Fassung angefügt]

Das Europäische Parlament hat mit seiner Resolution achtzig Jahre nach dem deutschen Angriff auf Polen die Geschichte neu gedeutet. Als Kriegsverursacher erscheinen die Vertragspartner des Nichtangriffspakts, also Deutschland und die Sowjetunion gleichermaßen. Der Beitrag der Völker der Sowjetunion zur Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, bei der Russen, Ukrainer und Weißrussen die Hauptlast trugen, wird nicht gewürdigt.

Wenn ein Land die Verpflichtung hat, den historischen Tatsachen ins Auge zu blicken, dann ist es Deutschland.
Es darf uns nicht gleichgültig lassen, dass heute das Europäische Parlament die deutsche Verantwortung für die Vergangenheit relativiert
Richard von Weizsäcker hat zum 40. Jahrestag des Kriegsendes im Deutschen Bundestag gemahnt, dass, wer die Augen vor der Vergangenheit verschließt, "blind für die Gegenwart" und "anfällig für neue Ansteckungsgefahren" werde.
Deutschland hat in der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts seine unübersehbare, unheilvolle Signatur hinterlassen. Niemand sollte daran herumradieren
Wir dürfen die Gefahr, die von der erinnerungspolitischen Volte des Europäischen Parlaments ausgeht, nicht unterschätzen. Nicht für Deutschland, wo die Rechtskonservativen erstarkt sind. Nicht für die Europäische Union, in der die Wahlen 2019 die rechtspopulistischen und rechten Parteien gestärkt haben. Und nicht für den europäischen Kontinent, der in den letzten Jahren wieder unsicherer geworden ist.

Deutschland muss seine friedenspolitische Verantwortung ernst nehmen. Wir können nicht einfach zusehen, wie das Gedenken an die Verbrechen des vergangenen Krieges heute für die Konfrontation zwischen Europa und Russland instrumentalisiert wird und die Gräben auf dem Kontinent noch tiefer werden.

Eine Lehre aus der deutschen Geschichte ist, dass unser Land wie kein anderes Verantwortung für den Frieden trägt.
Erinnern können wir nicht anders begreifen als den Auftrag, Verständigung und Ausgleich miteinander zu suchen, um den Frieden in Europa zu wahren
Darum wünsche ich mir, dass wir Deutsche ungeachtet der heutigen politischen Dissonanzen das Ende des Zweiten Weltkriegs mehr als bisher gemeinsam mit Russland begingen, um mit einem aufrichtigen Erinnern ein Zeichen für eine friedliche Zukunft in Europa zu setzen.
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